Die Kelten waren weder ein homogenes Volk, noch eine europäische Ur-Gemeinschaft, als die sie bisweilen verklärend bezeichnet werden. Sie waren nie zentral organisiert, hatten nie einen von allen Seiten akzeptierten Führer oder gar einen Staat.
Vielmehr verteilten sich die Kelten auf viele verschiedene Stämme und Stammesverbände, die einige kulturelle Gemeinsamkeiten hatten. In Frankreich lebten viele Stämme, die von Caesar als Gallier zusammengefasst wurden.
In Süddeutschland und der heutigen Schweiz lebten die Helvetier, Sequanen und Rauriker und in der heutigen Türkei die Galater, um nur einige wenige Beispiele zu nennen.
Die Bezeichnung Kelten kommt vom griechischen „keltoi“, das Herodot das erste Mal um 450 vor Christus verwendet. Es soll so viel heißen wie „die Tapferen“, „die Kühnen“.
Wer waren die Kelten?01:44 Min. Verfügbar bis 22.07.2024
Doch so wohlwollend diese Bezeichnung auch klingen mag, die antiken Zeitgenossen waren auf ihre Nachbarn aus Mitteleuropa nicht besonders gut zu sprechen. Häufig reduzierten römische und griechische Autoren die keltischen Völker auf blutrünstige Barbaren, die grausame Opferriten pflegten.
„Die Köpfe der gefallenen Feinde hauen sie ab und binden sie ihren Pferden auf den Hals, die blutige Rüstung geben sie ihren Dienern und lassen sie unter Jubelgeschrei und Siegesliedern zur Schau tragen. Zu Hause nageln sie dann diese Ehrenzeichen an die Wand, gerade als hätten sie auf der Jagd ein Wild erlegt.“
So beschrieb der griechische Geschichtsschreiber Diodorus Siculus im ersten Jahrhundert vor Christus die Kelten. Solch negative Darstellungen aus römischer oder griechischer Feder sind allerdings kein Wunder. Schließlich wurden die Kelten seit ihren Angriffen auf Rom und Delphi als Feinde der zivilisierten Welt angesehen.
von Klaus Hillingmeier
Unterdrückt von den Briten, flohen die Iren Ende des 19. Jahrhunderts in eine ferne Vergangenheit. Die Insel erlebte ihre sogenannte „keltische Renaissance“. Die fast vergessenen Sagen und Mythen erlangten eine neue Popularität, Archäologen begannen, die Denkmäler der Vorzeit zu erforschen, Dichter wie William Butler Yeats orientierten sich an der Lyrik der alten Barden, und selbst beim Sport wollte man sich von den Engländern distanzieren: 1884 wurde die „Gaelic Athletic Association“ mit dem Ziel gegründet, alte irische Sportarten wie Hurling oder Gaelic Football wiederzubeleben.
Die zumeist protestantischen Mitglieder der „Gaelic League“ kämpften dafür, die englische Sprache durch das keltische Gälisch zu ersetzen. Sprachrohr war die Zeitung „An Claidheamh Soluis“ (dt. „Schwert des Lichtes“). Die irisch-keltische Kultur sollte nationale Identität stiften. Ein Ideal, das bis heute Irland prägt. Doch die jüngste Forschung stellt unbequeme Fragen.
Haben die Kelten Irland gar nicht erobert?
Wann genau die ersten keltisch sprechenden Gruppen die Inseln erreichten, lässt sich immer noch nicht beantworten. Historiker vergangener Jahrzehnte gingen von einer groß angelegten Eroberung der Insel durch keltische Stämme aus, ähnlich der germanischen Landnahme während der Völkerwanderungszeit. Einige Forscher, wie Archäologe Francis Pryor, stellen dieses Bild radikal in Frage. Unter Berufung auf kulturelle Kontinuitäten der Bodenfunde sind sie der Meinung, dass es überhaupt keine keltische Invasion in Irland gab, sondern nur kleine Zuwanderungswellen, verbunden mit einem „Einsickern“ der keltischen Kultur.
Genuntersuchungen bestätigen diese Theorie, denn tatsächlich gibt es eine genetische Kontinuität der irischen Bevölkerung zwischen der Jungsteinzeit und dem frühen Mittelalter. Doch diese jüngsten Erkenntnisse werfen eine neue Frage auf: Warum übernahmen die „Ureinwohner“ Irlands eine fremde Sprache? Und woher kamen deren Träger?
Gälisch ist anders als andere keltische Sprachen
Irisch (Gaeilge) unterscheidet sich deutlich von anderen keltischen Sprachen wie Walisisch, Kornisch oder Bretonisch. Dieses Indiz spricht gegen eine Einwanderung keltisch sprechender Gruppen aus England, Wales oder Nordfrankreich nach Irland. In der älteren Literatur begegnet man immer wieder dem gallischen Stamm der Goidelen, der um 100 v. Chr. von Südfrankreich aus die Insel besiedelt haben soll. Doch nicht nur für diese Invasionswelle fehlt jeglicher Beweis, sondern auch für die historische Existenz der Goidelen.
Wie genau der Prozess der „Keltisierung“ ablief, wird wahrscheinlich immer ein Rätsel bleiben, da wir aus Bodenfunden keine Sprachgeschichte ableiten können. Doch Schwerter, Fibeln, Halsringe (engl. „Torques“) und andere Funde belegen, dass Irland zu Zeiten Julius Cäsars vom „celtic way of life“ geprägt war. In den folgenden Jahrzehnten setzten die Römer in Gallien und Südbritannien einen Schlussstrich unter die Kultur der Kelten. Die Führungselite – Druiden, Seher, Barden – wurde verfolgt und mit den Trägern der Kultur starben auch die mündlich überlieferten Erzählungen von Göttern und Helden.
Die alten Epen überlebten die Römerzeit
Doch Roms Legionen marschierten niemals auf irischen Boden und so überlebten die Epen aus der Frühzeit die Zeitläufte. Eine Erinnerung an dieses heroische Zeitalter ist der „Táin Bó Cualnge“, der „Viehraub von Cooley“. Wie Homers Ilias wurde auch der Táin vermutlich über Jahrhunderte mündlich überliefert, bevor er im 7. oder 8. Jahrhundert von Mönchen niedergeschrieben wurde. Herausragender Held der Erzählung ist Cú Chulainn (dt. „Hund des Culann“), ein Halbgott, der für den König von Ulster gegen dessen räuberische Feinde kämpft. Wie Achilles wählt auch Cú Chulainn ein kurzes Leben voller Ruhm und Heldentaten, statt eine lange ehrlose Existenz zu führen.
Bereits als Sechsjähriger tötet Cú Chulainn den riesigen Hund des Schmiedes Culann. Als Sühne übernimmt der Knabe die Aufgaben des Tieres. Zum hünenhaften Mann herangewachsen, kämpft er alleine gegen ganze Heere und hat erotische Begegnungen mit Prinzessinnen und Feen. Cú Chulainns Archillesferse ist, dass der Hund sein Totemtier ist. Als seine Feinde ihm ohne sein Wissen Hundefleisch vorsetzen, bricht er das göttliche Tabu und wird damit verwundbar. In einem letzten verbitterten Kampf findet er seinen Tod.
Haben die alten Sagen einen historischen Kern?
So fantastisch die Erzählungen des Táins auch sind, so könnten sie wie viele Sagen auch einen historischen Kern haben. Residenz des Herrschers von Ulster im Táin ist die Emain Macha (ausgesprochen Maha). 1961 stießen Archäologen in der Stadt Navan auf die Überreste einer Hügelfestung aus der Eisenzeit (ca. 200 v. Chr. bis 95 v. Chr.). Bei den Ausgrabungen machten die Archäologen eine äußerst erstaunliche Entdeckung: Sie fanden einen Affenschädel, Zeugnis weitreichender Handelsbeziehungen mit dem Mittelmeerraum. Im Zentrum der Anlage stand ein mächtiges Rundhaus, das immer wieder neu errichtet wurde. Auch wenn man nur zu gerne von einem königlichen Rundhaus („Royal Roundhouse“) sprechen will, der endgültige Beweis dafür, dass Navan mit der mythischen Residenz Macha gleichzusetzen ist, fehlt.
Alte Gesetzestexte lassen einen gewissen Rückschluss auf die Struktur der altirischen Gesellschaft vor der Christianisierung im 4. Jahrhundert zu. Der Überlieferung zufolge gliederte sich das Land in zahlreiche kleine Stammesgebiete, sogenannte „Tuatha“, vergleichbar dem mittelalterlichen Schottland mit seinen Clans. An der Spitze jeder Gemeinschaft stand ein Führer, der den stolzen Titel „Rí“, König, trug. Den Mittelbau der Gesellschaft bildeten Krieger, Handwerker, sowie die Gebildeten wie Barden, Ärzte oder Rechtsgelehrte. Der dritte Stand waren die freien Bauern. Wie in den meisten archaischen Gesellschaften hat es auch Sklaven gegeben – vermutlich Kriegsgefangene.
Mönche überlieferten die heidnischen Götter
Es ist ein literarischer Glücksfall, dass sich die Mönche nicht nur für Heldensagen und Gesetzestexte interessierten, sondern auch für die heidnischen Götter. Geradezu entschuldigend schrieb ein Mönch am Ende seiner Sammlung irischer Sagen: „Manches ist nämlich teuflischer Betrug, manches poetische Erfindung, manches hat den Anschein von Wahrheit, anderes wieder nicht, und manches soll zur Unterhaltung von Narren dienen.“
Der mächtigste Gott im irischen Pantheon ist Lugh, der „Leuchtende“, der wahrscheinlich mit dem Lugus der Gallier gleichzusetzen ist. In der Mythologie ist Lugh ein „ausländischer“ Gott, der übers Meer gekommen ist und in einer fremden Zunge spricht – vielleicht ein Hinweis auf den Kulturtransfer vom Kontinent. Andere Götter erscheinen als „heimisch“, etwa die Síde, Unterweltgötter, die seit Urzeiten in den Grabhügeln der Insel hausen. Vor allem an Samhain, der Nacht zum 1. November, sind die Síde besonders gefährlich. Dann verlassen sie ihre Grabhöhlen, um auf Kopfjagd zu gehen. Unser Halloween ist der kommerziell-fröhliche Nachklang dieses einst düsteren Festes.
Es ist vielleicht vollkommen egal, was nun an den Sagen und Mythen „Kulturimport“ ist und was genuin irisch. Die Überlieferungen verzaubern und fesseln, sie sind das schönste Erbe der Frühzeit. Und sie beweisen, dass Irland schon immer ein Eiland der Dichter war.
Der Artikel erschien erstmals in G/GESCHICHTE 7/2015 „Irland – Insel der Tausend Legenden“