Die Türkei erstreckt sich über den östlichen Zipfel Europas und Vorderasien und hat kulturelle Verbindungen zu den antiken Reichen der Griechen, Perser, Römer, Byzantiner und Osmanen. Im kosmopolitischen Istanbul am Bosporus befinden sich die berühmte Hagia Sophia mit ihrer hoch aufragenden Kuppel und christlichen Mosaiken, die imposante Blaue Moschee aus dem 17. Jh. und der Topkapı-Palast von 1460, ehemalige Residenz der Sultane. Ankara ist die moderne Hauptstadt der Türkei.
Lira-Krise in der Türkei
Die Wut wächst
Stand: 16.12.2021 10:05 Uhr
Die wirtschaftliche Lage der Türkei wird immer prekärer. Die hohe Inflation frisst die Löhne auf, der Unmut der Bevölkerung nimmt stetig zu. Von der schwachen Lira profitieren andere.Von Oliver Mayer-Rüth, ARD-Studio Istanbul
Die Grenzstadt Edirne, einen Steinwurf von Griechenland und etwa zehn Kilometer von Bulgarien entfernt: Seit einigen Wochen stauen sich immer freitags am bulgarisch-türkischen Übergang Autos. Scharenweise kommen Bulgaren, um günstig einzukaufen. Bahri Dinar, Restaurantbesitzer, reibt sich bereits am Donnerstag die Hände. Sein Lokal ist berühmt für gebratene Leber, und am Freitag seien alle Tische besetzt, sagt er.
Oliver Mayer-RüthARD-Studio Istanbul
Ausländer freuen sich, doch die Bevölkerung leidet
Bulgarien ist zwar EU-Mitglied, hat aber die eigene Währung Lew – und der Lew ist im Vergleich zur türkischen Lira ähnlich stabil wie der Euro. Seit Wochen fällt die Lira fast täglich. Während man Ende August noch knapp zehn Lira für einen Euro bekam, sind es inzwischen mehr als 17 Lira. Touristen aus Bulgarien kaufen vor allem Kleidung, aber auch andere Gegenstände des täglichen Gebrauchs. Danach gehen sie bei Dinar Leber essen. Viele bleiben das ganze Wochenende, denn auch die Hotels sind vergleichsweise günstig. Der Restaurantbesitzer weiß aus Gesprächen mit den Gästen, es seien zu 90 Prozent Einkäufe für den Eigenbedarf. Bulgarischen Zöllner ließen ihre Landsleute Produkte bis zu 300 Euro zollfrei einführen, so Dinar.
Während sich die Bulgaren freuen, bekommen Türkinnen und Türken immer längere Gesichter, wenn sie im Fernsehen Bilder von den Kaufschlachten in der Grenzstadt sehen. Während für Ausländer die Türkei aufgrund einer rapide fallenden Lira immer mehr zum Schnäppchenparadies wird, können sich Einheimischen bei einer explodierenden Inflation immer weniger leisten.13.12.2021Einbruch nach ProtestenTürkische Lira im AbwärtssogDer Abwärtstrend der türkischen Lira setzt sich fort.
Will Erdogan die Türkei zum Billiglohnland machen?
Am vergangenen Sonntag gingen in Istanbul mehrere Tausend Gewerkschafter auf die Straße. Die Gewerkschaftsvorsitzende Arzu Cerkezoglu stand mit dem Mikrofon auf der Bühne und warf Präsident Recep Tayyip Erdogan in energischem Ton vor, er wolle die Türkei zum Billiglohnland machen. Das Ziel sei, mit Kampfpreisen international wettbewerbsfähig zu sein. Erdogan fordert seit Jahren niedrige Zinsen und hat mehrfach die Zentralbankführung ausgetauscht. Die Nachfolger setzen willfährig seine Forderung um, was die Lira in den Abgrund treibt. Sicherlich hilft das dem Export. Doch für viele Export-Produkte müssen teure Rohstoffe zur Weiterverarbeitung mit Dollar importiert werden. Die Rechnung kann also tatsächlich nur auf dem Rücken von maximal schlecht bezahlten Arbeitskräften aufgehen.
Niedrige Löhne und eine amtliche Inflation von 21 Prozent jedoch kollidieren auf Dauer; insbesondere, wenn die amtlich errechnete Inflation offenbar längst nicht mehr der Realität der Preisanstiege entspricht. Polat Güler, Besitzer eines sogenannten Bakkals in Istanbul, sagt, er müsse jede Woche die Preisschilder in seinem Minisupermarkt neu beschriften. Die Kunden seien deshalb sauer, aber er könne die Ware ja nicht unter dem Einkaufspreis weitergeben. Die eklatanteste Preissteigerung habe es in seinem Laden beim Speiseöl gegeben. Im Frühjahr des vergangenen Jahres kostete eine Flasche Sonnenblumenöl noch 30 Lira. Inzwischen sind es 100 Lira. 12.12.2021Proteste gegen WährungsverfallOffenbar Festnahmen bei Demos in der TürkeiIn der Türkei haben Tausende Menschen gegen die Wirtschaftspolitik der Regierung protestiert.
Die Inflationsdaten wirken geschönt
Birol Aydemir, früherer Chef des Statistikamtes, monierte bei Radio Sputnik, keiner glaube mehr den veröffentlichten Zahlen. Dazu passen die Berechnungen der Ena-Gruppe – einem unabhängigen türkischen Institut. Die Analysten blicken monatlich auf die Preissteigerung und kommen auf 58,65 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Die Zahl leuchtet den meisten Konsumenten viel eher ein als die vom Statistikamt veröffentlichten 21 Prozent. So hat Ena bei Lebensmitteln eine Inflation von knapp zehn Prozent allein zum Vormonat errechnet. Bei Produkten der Gesundheitsindustrie sind die Preise den Analysten zufolge von Oktober bis November um 17 Prozent gestiegen.
Kemal Kilicdaroglu, Vorsitzender der größten Oppositionspartei CHP im Parlament, wollte als Abgeordneter dem Statistikamt einen Besuch abstatten, um sich zu erkundigen, wie die Inflation berechnet wird. Laut Gesetz ist ihm das jederzeit möglich, er muss sein Kommen nur vorab ankündigen. Das tat er auch – mit dem Ergebnis, dass die Tore zur Einfahrt des Amtes geschlossen blieben und keiner sich im Stande sah, ihn zu empfangen und seine Fragen zu beantworten. Für viele liegt die Schlussfolgerung auf der Hand: Statt Berechnung der Inflation wird schöngerechnet.02.12.2021Krise der türkischen LiraErdogan tauscht Finanzminister ausInmitten der Lira-Krise bekommt die Türkei einen neuen Finanzminister.
Die „unorthodoxen Hypothesen“ des Präsidenten
Unterdessen prophezeite Finanzminister Nureddin Nebati am vergangenen Montag im türkischen Fernsehen, die Lage der türkischen Wirtschaft werde sich in Kürze verbessern. Er ist seit Anfang Dezember im Amt. Der bisherige Finanzminister hat bei einer Rede des Präsidenten demonstrativ das Klatschen versäumt und musste zurücktreten. Der Nachfolger verteidigt tapfer Erdogans eigentümliche Theorie, dass Senkungen des Leitzinses die Inflation in der Türkei drücken würden.
Wirtschaftsexperten und die Opposition im Land können nicht nachvollziehen, auf welcher Grundlage der türkische Präsident solch „unorthodoxe Hypothesen“ verbreitet. Es hagelt Kritik aus allen Richtungen. Auf die Frage, was denn passiere, wenn es nicht besser wird, sagte Nebati, er sei dann traurig. Traurig dürften auch zunehmend türkische Frauen und Männer sein, die mit ihren Monatsgehältern kaum noch Lebensmittel einkaufen können. Und die Geschichte lehrt: Solche Trauer kann schnell in Wut umschlagen.